Müde Jugendliche: Lassen wir sie schlafen
Ein Montagmorgen im Dezember in einer Sekundarschule. Es ist 7 Uhr 30 und dunkel. Man packt Bücher und Hefte aus, grelles Licht, langsame Bewegungen. Die Kontaktfreudigkeit hält sich in Grenzen, man verharrt im Rückzug. Ich schiebe die Wandtafel nach oben, der Unterricht beginnt: Präteritumformen, Wahrscheinlichkeitsrechnungen, das Leben in der Arktis. Man reibt sich die Augen, da und dort erwacht ein Teenager, vereinzelte Wortmeldungen zwischen auf Pulten abgestützten Köpfen, irgendwo rollt ein Bleistift über ein Pult. Man schreibt, man radiert, man blättert in Büchern und versucht dabei die Nacht hinter sich zu lassen. Ich sage nichts zu den Kapuzen, versuche den Wunsch nach einem Nest zu verstehen, fahre weiter mit meinen Erklärungen zum Passé composé. Draussen dämmert es, der Tag erwacht. Um 9 Uhr hat man dann die Dunkelheit gänzlich bewältigt, nicht aber die Müdigkeit, und auf dem Stundenplan stehen für diese Woche weitere 34 Lektionen.
Jugendliche, die auf die Idee kommen, den Leistungsanspruch der Volksschule ernst zu nehmen, kommen mit Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen schnell einmal auf eine 45-Stunden-Woche, chronischer Schlafmangel und Pubertät inklusive.
So divers die Jugendlichen waren, die ich in den letzten zwölf Jahren unterrichtet habe, eines hatten sie meistens gemeinsam: Sie waren müde. Und dies nicht nur am Montagmorgen um 7 Uhr 30. Viel eher möchte ich von einer Müdigkeit sprechen, die sich als Dauerzustand in Schulen etabliert hat. Denn der Unterricht beginnt früh, die Tage sind lang, und weil der Wunsch, neben Schule und Unterricht das Leben zu spüren, durchaus nachvollziehbar ist, überrascht es kaum, dass 14-Jährige sich nicht bereits um 21 Uhr im Tiefschlaf befinden.
Der Mensch braucht Erholung. Und dies nicht einmal, um eine spezifische Herausforderung zu bewältigen. Der Mensch braucht Erholung, um im Leben sein zu können. Menschen im Wachstum brauchen sie in besonderer Weise, auch ohne Französisch-Verben lernen zu müssen und algebraische Aufgaben zu begreifen. Gross werden allein ist anstrengend, gross werden und lernen, noch mehr. Beides muss in ausgeschlafenem Zustand vollbracht werden. Jugendliche sollen nicht nur gespitzte Bleistifte, Bücher, sogenannte Sozialkompetenzen und ein Gedächtnis voller memorisierter Französisch-Vokabeln in die Schule bringen, sondern auch neun bis elf Stunden Schlaf. Für diesen würden sich die Morgenstunden besonders gut eignen, denn neuro- und entwicklungspsychologisch ist man sich längst einig: Das jugendliche Hirn ist erst am späteren Morgen aufnahmefähig.
Man kann zwar um 7 Uhr 30 versuchen, Französisch-Dialoge zu schreiben, es bringt aber kaum etwas. Überhaupt darf Lernen nicht mit Fliessbandarbeit verglichen werden. Man lernt nicht grundsätzlich mehr oder besser, wenn man dies möglichst lange tut. Lernen braucht Zeit – zum Verarbeiten, zum Begreifen, Lernen braucht Emotionen, Raum, Freude, Erholung, Pausen. Eine 45-Stunden-Woche macht noch lange keine klugen Köpfe, erschöpfte aber ganz bestimmt. Weniger Lektionen in besserer Qualität – das ist kein Risiko, sondern verantwortungsvoll. Gewiss, später müssen sie das manchmal auch können, das Frühaufstehen, die langen Arbeitstage. Später ist aber nicht jetzt. Seien wir mutig, und kürzen wir die vom Lehrplan vorgegebenen Lektionstafeln. Gesellschaftsfähig werden Jugendliche, in dem wir ihnen Sorge tragen. Lassen wir sie schlafen.