Der Ernst des Lebens
«Nach der 6. Klasse beginnt der Ernst des Lebens.» Ich glaube, fast jedes Kind hat diesen Satz aus dem weisen Munde eines Erwachsenen mindestens einmal gehört: kein Malen und Basteln mehr, kein Im-Kreise-Tanzen und Lauthals-Lieder-Singen und Keinen-Ton-Treffen. Nein, nur noch Algebra und Akkusativfälle lernen und wenn singen, dann nur richtig und ohne Textblatt und der Lehrer gibt einem dann eine Note dafür. Als Sekundarlehrerin höre ich stattdessen Kolleginnen und Kollegen zu den Schülerinnen und Schülern sagen, dass dann in der Lehre oder im Gymnasium der Ernst des Lebens beginne: Zuspätkommen wird vom Lehrmeister nicht zwei Mal geduldet und im Gymnasium muss man dann mit Tschutten aufhören, weil man bis spät nachts Latein-Vokabeln lernen müsse. In der Lehre hören sie dann, dass sie nie eine Festanstellung fänden, wenn sie ihr Arbeitstempo nicht beschleunigen würden, und der Gymilehrer meint, an der Universität könne man es sich dann nicht leisten, die Pflichtlektüren nicht zu lesen, man bestehe so keine einzige Prüfung. Später sagen einem dann die Eltern, der Ernst des Lebens beginne dann, wenn man wisse, wie es sei, die Krankenkassenprämien und die gebührenpflichtigen Abfallsäcke selber zu bezahlen.
Kein Platz für Freude und Muse?
Wahnsinn, wie ernst das Leben ist! Erwachsene neigen ganz offensichtlich dazu, Heranwachsenden aufgrund bestimmter Kenntnisse, Erfahrungen und Ahnungen immer und immer wieder vorherzusagen, wie schwierig der vor ihnen liegende neue Lebensabschnitt für sie sein wird. Während sowohl Kinder als auch deren Eltern dem Schulanfang und somit dem Eintritt in die erste Klasse der Primarschule noch freudig entgegensehen, wird spätestens in der 6. Klasse der Ernst des Lebens, der in der Sekundarschule wie ein schwarzgekleideter Tyrann auf die kleinen Schulkinder wartet, in regelmässigen Abständen vorausgeahnt: nur noch lernen und Prüfungen schreiben, Lehrstellen suchen und sich auf die Gymiprüfung vorbereiten. Kein Zeichnen und Singen mehr, kein Gedichtelesen und kein Im-hohen-Gras-Liegen und Den-Vögeln-Zuhören. Ernste algebraische Aufgaben ersetzen das fröhliche Keulenvölk-Spiel im Sportunterricht, statt zu basteln, werden nur noch gleichschenklige Dreiecke mit winkelhalbierenden Geraden konstruiert. Farben und Zahlen auf Französisch seien stets vorausgesetzt, auf der Oberstufe lerne man dann nur noch das passé composé und die unregelmässigen Verben auf -ir. Kurz gesagt: Die Oberstufe ist eine Wissensfabrik, in der es keinen Platz für Freude, Muse und Sinnlichkeit.
Oberstufe kann Freude bereiten
Liebe Erwachsene, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern, liebe Menschen, die angeblich schon so viele Male mit dem Ernst des Lebens konfrontiert wurden: Die Oberstufe ist kein schwarzgekleideter Tyrann, zumindest nicht immer. Die Oberstufe kann Freude bereiten. Sekundarschülerinnen und -schüler schreiben Prüfungen und Bewerbungen, sie müssen lernen und Einsatz zeigen. Verantwortung, Pünktlichkeit und Disziplin sind wichtig – all dies steht ausser Frage. Schule und Unterricht können aber selbst dann noch Freude bereiten. Grammatik, Französisch-Vokabeln und Naturkunde werden nicht nur anhand von Theorien und Modellen geübt, sondern können auch auf der Oberstufe durchaus lustvoll unterrichtet werden. Deutsch wird auch beim Schreiben eines Theaterstückes gelernt, Mathematikkenntnisse erwirbt man auch beim Kochen im Hauswirtschaftsunterricht und beim Regalschreinern im Werken. Auf Französisch kann gesungen werden und was eine Fotosynthese ist, lernt der Schüler bestenfalls auch im Schulgarten beim Setzen von Kopfsalat und Petersilie. Spätestens dann, wenn Oberstufenschüler nach der Mittagsrast auf der Wanderung im Klassenlager beginnen, nahe gelegene Bäche zu stauen, wird klar, dass die Sekundarschule doch nicht so ernst ist.
Angstfreier Ort zum Lernen
Die Schule muss ein Ort sein, an dem angstfrei gelernt werden kann, ein Ort, an dem Freude, echtes Interesse und Begeisterungsfähigkeit in hohem Masse am Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler beteiligt sind. Schülerinnen und Schüler lernen nicht mehr oder besser, wenn man ihnen vorhersagt, wie ernst, streng und schwierig Schule und Unterricht sein werden. Im Gegenteil: Angst hemmt Freude, Motivation und Leistungsfähigkeit. Die Oberstufe ist für viele Jugendliche zukunftsweisend, sie ist neben vielem anderem entscheidend, wohin der Weg nach der Volksschule führt. Dies ist aber noch lange kein Grund, in ihr den Ernst des Lebens zu sehen. Liebe Primarschüler, freut euch auf die Sekundarschule! Es wird nicht immer heiter, fröhlich und gelassen – aber oft.
Hinweis
In älteren Texten wurde teilweise nicht durchgängig gegendert. Heute achte ich bewusster auf eine inklusive Sprache – im Wissen, dass Sprache mit uns wächst.