Hans Rudolf Kilchsperger — Ein Erkundungsgang

Zürich, an einem Samstagmorgen im September in einem sich bereits verabschiedenden Sommer. Im Café Neumarkt spielen sich die üblichen profanen Szenen ab. Man trinkt Kaffee, man hat Zeit. In meinem blauen Notizheft umkreise ich den Titel Hans Ruedi, den ich bereits gestern notiert hatte. Wer keine Ideen hat, umkreist Titel. Irgendwo bellt ein Hund, mein Kaffee riecht besser, als er schmeckt und die Kreise mehren sich. Ich denke an die Schauplätze, an denen ich Hans Ruedi begegnet bin, versuche sie zu ordnen, temporal, lokal, kausal – fast wie in einer Deutschstunde beim Untersuchen von Präpositionen. Bemüht um Ordnung, beginne ich Hans Ruedi in fragmentarischen Erinnerungen zu denken: eine zufällige Begegnung am Hauptbahnhof in Zürich, Hans Ruedi am Zeltweg als Dozent, Gespräche über die Ostsee und über Jerusalem im Speisewagen nach Brig, Hans Ruedi an meiner mündlichen Diplomprüfung, an der Kaffeemaschine in der Mensa und auf Besuch in meinem Klassenzimmer, in dem seine Studierenden unterrichten. Hans Ruedi, der Praxislehrpersonen empfängt, der über den grossen Platz zwischen LAA, LAB und LAC läuft, meist mit Rucksack, den er aber nur über einer Schulter trägt. Hans Ruedi, der mir im Migros-Restaurant im Wallis gegenübersitzt, zwei Mal Tagesmenü, Lachs mit Kartoffeln und Spinat, vertieft in Gespräche über Schule, Unterricht und Religion, wobei er bei Tagesanbruch des gleichen Tages spontan auf Gleis 32 anzutreffen war, unter dem Arm den Materialkoffer zum Judentum, Hans Ruedi stand da wie ein Mensch gewordenes Schulfach.

Und dann ist da der Geruch von rohem Fisch, schwallweise. Aus einem Tiefkühllieferwagen werden in Styroporschachteln gekühlte Forellen und Felche ins benachbarte Restaurant gebracht. Es kann einem vieles vom Schreiben abhalten. Der Fischgeruch hatte gerade seine Premiere. 

Was heisst es, über jemanden zu schreiben? Und was ist es, das sich am Ende von vielen Begegnungen auf Papier verdichtet? Und wer ist das schreibende Ich? Eine Wissende, eine Beobachtende, eine Lernende? Hier in diesem Fall bei Hans Ruedi, hinkt das Schreiben den Begegnungen hinterher. Schreibend lässt es sich genauer denken, wenn auch mit Verzögerung. Schafft das nun Nähe oder Distanz? Begegnen kann man einem Menschen oft, beim Schreiben über ihn aber, beginnt man ihn kennenzulernen. So habe ich erst jetzt festgestellt, dass Hans Ruedis Brille zwar klein ist, seine Welt aber gross. Dass er nie mit gesenktem Blick durch die Gegend läuft, sondern aufrecht. Er schwenkt den Kopf beim Gehen nach links und nach rechts, ohne ziellos zu wirken. Seine Gangart ist die eines Umsichtigen – er schaut eben um sich. Und was sich bereits beim Gehen visuell so klar manifestiert, merkt sein Gegenüber im Kaffee, im Seminarraum, im Speisewagen und beim Lachsessen im Migros-Restaurant rasch: Hans Ruedi ist einer, der wahrnimmt, einer, der zuhört und nachfragt. Er weiss viel und erklärt wenig. Er schaut nicht nur, er sieht auch. Hans Ruedi trifft die Menschen nicht, er begegnet ihnen. Er hat Zeit. Und dann ist es eben auch so, dass man von grossem Glück sprechen kann, wenn man an der mündlichen Diplomprüfung im Jahr 2012 einem freundlichen und sich freuenden Dozenten gegenübersitzt, dessen Fragen nicht kontrollierend oder prüfend sind, sondern interessiert und zugewandt. Er will nicht nur wissen, was man zum oder über das Judentum, den Islam oder den Hinduismus zu sagen hat, sondern auch, woher das Interesse rührt. So verkommt eine Prüfung zu einem Gespräch, in dem man vergisst, dass man im Grunde genommen da sitzt, um bewertet zu werden. Hans Ruedi macht den oder die Andere zum Experten, obschon die Rolle im Grunde genommen ihm zusteht. Es ist eben das, was ihn ausmacht, dass es für ihn nämlich keine Leerstelle gibt zwischen Inhalt und Mensch. Gewiss geht es ihm stets um die Sache, um Unterricht, um Religionen, um Präkonzepte, Methoden, Verlaufsplanungen und um Lernziele. Aber eben auch um die Menschen, die diese Inhalte umgeben, um Menschen mit ganz eigenen Arten, in der Welt zu sein.

Ob ich noch einen Kaffee haben möchte, lieber Tee bitte, sage ich. Was lerne ich noch, wenn ich schreibend über Hans Ruedi nachdenke, oder eben nachdenkend über ihn schreibe? Der Tee wird serviert und ich freue mich, dass die Pfefferminze in ihm frisch ist. Frisch ist wahrscheinlich auch Hans Ruedis Freundlichkeit und sein Humor, zwei Begleiter, die sein umsichtiges Wesen an der Hand nehmen. Dogmatik und Formalismus aber lässt er gerne im Regen stehen. Hans Ruedi ist einer, der ermutigend begleitet und weil er die Menschen ernst nimmt, gibt es am Schluss kein Schnickschnack, sondern eine ehrliche Meinung. 

Aus der Spiegelgasse tritt der Teppichverkäufer hervor. Er trägt ein grosses und schweres Exemplar auf seiner Schulter. Welche Berufe hätten wohl auch noch zu Hans Ruedi gepasst? Ich notiere spontan, beginnend mit fachnah hin zu fachfremd: Pfarrer, Seelsorger, Sozialarbeiter, Psychoanalytiker, Krankenpfleger, Kindergartenlehrperson, Spielgruppenleiter, Buchhändler, Schriftsteller, Kulturvermittler, Moderator beim Radio, Coiffeur, Inhaber eines Literatencafés, Schauspieler, Regisseur, Kinderarzt und vielleicht sogar Apotheker. 

Gott – und allen anderen metaphysischen Kräften – sei Dank, dass Hans Ruedi, gesegnet mit so manchen Talenten, den Schauspielbühnen, Spitälern und Coiffeursalons dieses Landes den Rücken zukehrte und er stattdessen in und ausserhalb der Pädagogischen Hochschule gewirkt und viele von uns so liebevoll begleitet hat.