Bildung ist keine Gulaschsuppe
Die Frage danach, was an einer Volksschule gelernt werden soll, ist hochpolitisch. Die Debatte über den Lehrplan 21 bestätigt die Komplexität bezüglich dieser Entscheidungen, wobei die Diskussionen darüber nahezu einem Verkaufsgespräch an der Frischfleischtheke gleichen: Welche Sprachen dürfen es denn sein? Möchten Sie noch ein wenig Geschichte oder lieber Religionsunterricht? Darf ich Ihnen ein bisschen Werkunterricht zum Probieren geben, oder soll ich Ihnen gleich 500 Gramm Mathematik einpacken? Selbst das Beiziehen eines Einkaufszettels würde wohl kaum Abhilfe verschaffen. Bildung kennt eben weder Aktionspreise noch Waagschalen. Bildung kennt kein Rezeptbuch, das minuziös vorgibt, wie viel und was ein Kind braucht, um gebildet zu werden. Ganz grundlegend strebt der Lehrplan nach einer «elementaren und ganzheitlichen Bildung» – so steht es in dessen einleitenden Kapiteln. Geistige, gefühlsmässige und körperliche Bildung sollen dabei uniform gefördert werden. Die Volksschule ist durchaus darauf bedacht, neben dem Unterricht in klassischen Promotionsfächern wie Deutsch und Mathematik einen Unterricht zu ermöglichen, der musische Fähigkeiten fördert, dies unter anderem in den Fächern Handarbeit, Werken und Hauswirtschaft; bei Mangel an finanziellen Mitteln aber wurden schon in der Vergangenheit und werden auch gegenwärtig oft Letztere vom Bildungsangebot gestrichen.
Musisch kommt vom Griechischen «mousikós», was die Beschäftigung mit der Kunst meint. Tendieren wir bei Geldmangel stets zur Abschaffung ebendieser musischen, sich mit der Kunst beschäftigenden Fächer, so ist dies viel mehr als die Abschaffung von Kunstunterricht an sich. Es meint die Abkehr vom sinnlichen Lernen, die Verabschiedung einer Pädagogik, welche eine ganzheitliche Bildung verfolgt. Es ist die Abwendung von freudigem, lustvollem und sinnenhaftem Begreifen und Verstehen der Welt. Es ist die Negierung eines Wissenskonstruktionsprozesses, welcher durch seine Fülle an Kreativität und Lebendigkeit fühlbar, hörbar, riechbar und deshalb wahrnehmbar werden könnte. Musische Fächer sind Bildungsangebote, welche weitaus mehr umfassen als die simple Herstellung eines Kleiderbügels, das Nähen eines Kapuzenpullovers oder die Zubereitung von Alplermagronen.
Es ist durchaus möglich, dass ein Schüler im Werkunterricht mehr mathematisches Wissen erwirbt als im Mathematikunterricht selbst. Der Grund könnte darin liegen, dass er plötzlich versteht, welche Bedeutung die Exaktheit des rechten Winkels beim Bauen seines selbstentworfenen Büchergestells bekommt. Es kann sein, dass eine Schülerin dank dem Handarbeitsunterricht erstmals die Lust am Lesen entdeckt, ist sie doch derart von Mode und Design angetan, dass sie nun wöchentlich die von der Handarbeitslehrerin mitgebrachte Modezeitschrift verschlingt. Die Förderung von Sprachfertigkeiten ist meines Erachtens nirgends so ergiebig wie beim gemeinsamen Zubereiten eines Mittagessens im Hauswirtschaftsunterricht. Ich selbst habe die Geschichte rund um die Masseinheiten erst begriffen, als ich beim Herstellen des Omelettenteigs Deziliter mit Litern verwechselte und der Teig rein von der Menge und Konsistenz her dann eher einem Mehlsuppen-Essen für hundert Soldaten der Schweizer Armee glich.
Und ist es nicht so, dass fremdsprachige Kinder in den musischen Fächern mehr an Wortschatz und Satzbaustrukturen lernen als beim Lösen des x-ten Arbeitsblattes? Nämlich deshalb, weil das, was sie gerade tun, im Moment des Erlebens Sinn ergibt? Musische Fächer werden im Volksmund nicht deshalb «Plauschfächer» genannt, weil die Schülerinnen und Schüler sich darüber freuen, nichts Anstrengendes tun zu müssen, sondern weil das, was sie im Rahmen dieser Fachbereiche hören, sehen, lesen, bauen, kochen, organisieren und vortragen, tatsächlich Plausch macht. Denn dort, wo etwas lebendig und echt wird, wo die Grenzen zwischen Schule und Leben verwischen, wird lernen möglich. Kunstfächer sind keine Plauschfächer. Es sind Bildungsangebote, in denen Kinder und Jugendliche intensiv Mathematik und Sprache betreiben. Es sind Fächer, in denen sie lernen, sich mitzuteilen und Gemeinschaftliches zu pflegen. Es sind Fächer, in denen Kinder und Jugendliche die Fähigkeit erlangen, etwas vorher nie Dagewesenes und somit Einzigartiges zu kreieren.
Es sind Fächer, in denen Schülerinnen und Schüler, angeregt durch Kreativität und Erfindungsgabe, echte Fragen an das Leben und die Menschen entwickeln können. Es sind Fächer, in denen Kinder und Jugendliche zu kleinen fabelhaften Künstlern werden, auch wenn dabei alles andere als «gepläuschelt» wird.
Bildung ist keine Gulaschsuppe, die nach Rezept gekocht wird. Sie darf aber genauso viel Freude bereiten wie die Zubereitung eines Eintopfes. Mögen die Finanzvorsteher der jeweiligen Schulgemeinden daran erinnert werden.
Hinweis
In älteren Texten wurde teilweise nicht durchgängig gegendert. Heute achte ich bewusster auf eine inklusive Sprache – im Wissen, dass Sprache mit uns wächst.